Herausforderung Nachrüstung: Beispiel Schiesspulver
Versorgungsengpässe bei Schiesspulver stehen exemplarisch für die Herausforderungen, mit welchen Europa derzeit in rüstungsindustriellen Basisbereichen konfrontiert ist. Die Nachfrage ist hoch, ebenso die Präferenz für heimische Fertigung. Die Angebotsentwicklung wird jedoch durch technologische und strukturelle Faktoren gehemmt. Viele Staaten setzen daher auf industriepolitische Massnahmen.
![Je nach Verwendungszweck werden Treibladungen in verschiedensten Formen produziert.](/ueber-uns/css-news/2024/07/defense-industrial-bottlenecks-gunpowder/_jcr_content/articleLeadImage/image.imageformat.carousel.1390228031.jpg)
Die Verteidigungsfähigkeit eines Staates oder Staatenbundes wird wesentlich von seinem Zugang zu erforderlichen Rüstungsgütern beeinflusst. Auch vor dem russischen Angriff auf die Ukraine war es kein Geheimnis, dass die Kapazitäten und teils auch Kompetenzen der wehrtechnischen Industrie Europas seit den 1990er-Jahren erheblich abgeschmolzen waren. Ein präziseres Bild des Ausmasses und der Implikationen dieses Substanzverlustes wird jedoch erst vor dem Hintergrund des gegenwärtigen grossmassstäblichen Staatenkrieges erkennbar. Dabei stehen zwei Einsichten im Vordergrund.
Erstens: Die Bedarfslage europäischer Streitkräfte verlangt von der heimischen Industriebasis nicht nur das Wiederaufschliessen in gemeinhin als «zukunftsweisend» erachteten Prestigebereichen wie der militärischen Luftfahrt und der Informationstechnologie, sondern auch den Rückgewinn wehrtechnischer Basisfähigkeiten. Dazu gehören insbesondere solche im Kontext von Waffen, Munition und energetischen Materialien, welche in den letzten Jahrzehnten mehrheitlich zum «alten Eisen» gezählt und bewusst heruntergefahren worden waren.
Zweitens: Gerade bei solchen Fähigkeiten in Zusammenhang mit kinetischer Wirkungserzeugung erweist sich die industrielle Wiederertüchtigung als herausfordernder, als ihr militärisch basaler Charakter suggerieren würde. Tatsächlich handelt es sich hierbei oftmals um technisch wie unternehmerisch risikoreiche Spezialanwendungen, welche von Fachwissen und Sonderbetriebsmitteln abhängen, die in Europa inzwischen rar gesät sind und nicht kurzfristig durch Adaption aus der zivilen Sphäre gewonnen werden können.
«Nötig ist auch der Rückgewinn wehrtechnischer Fähigkeiten, die zwar basal, jedoch durchaus nicht «simpel» sind. »Amos Dossi
Die vorliegende Analyse erörtert dieses Missverhältnis zwischen Nachfrage- und Angebotslage, seine Ursachen sowie seine rüstungspolitischen Implikationen anhand des Beispiels von Schiesspulver. Dieser vermeintliche Nischenbereich rückt zunehmend in den Fokus des politischen und externe Seitemedialen Interesses. Aus militärischer Sicht handelt es sich bei Schiesspulver – fachlich korrekt: Treibladungen – um eines der elementarsten Rüstungsgüter überhaupt. Aus der Sicht industrieller Erstellung hingegen ist dieses chemischtechnische Produkt ausgesprochen anspruchsvoll und dabei von anderen zivilen wie auch militärischen Industrieaktivitäten weitgehend entkoppelt.
Im Folgenden werden zunächst die wesentlichen technischen Rahmenbedingungen der Herstellung von Treibladungen sowie deren militärische Bedeutung umrissen. Anschliessend werden Stand und Entwicklungsaussichten der diesbezüglichen industriellen Wiederertüchtigung Europas skizziert, wobei ein besonderes Augenmerk auf die Schweiz gelegt wird, der hier – nolens volens – eine bedeutsame Rolle zukommt. Schliesslich folgen rüstungspolitische Überlegungen, welche sich aus den technologie- und marktbezogenen Besonderheiten dieses kritischen Industriebereiches ableiten lassen.
Der Autor:
Dr. Amos Dossi ist Senior Researcher am Think Tank des CSS und leitet dort die Politikberatung im Cluster Militärdoktrin und Rüstungsbeschaffung.