Geopolitische Auswirkungen des Berg-Karabach-Konflikts
Die Eroberung Berg-Karabachs durch aserbaidschanische Truppen im September 2023 markierte eine regionale Machtverschiebung. Die armenische Armee hielt sich zurück, und die russischen Truppen vor Ort haben die Kämpfe nicht verhindert. Mit dem schwindenden Einfluss Russlands überdenkt Armenien seine Beziehungen zu Moskau. Die Aussichten auf Frieden bleiben jedoch ungewiss.
Der Berg-Karabach-Konflikt, der auf die Grossmachtrivalitäten des frühen achtzehnten Jahrhunderts zurückgeht, eskalierte jeweils, wenn die imperiale Kontrolle durch die benachbarten Grossmächte – das safawidische Persien, das russische Zarenreich und die Sowjetunion – nachliess. Nachdem die Rote Armee den gesamten Südkaukasus erobert hatte, erklärte das von Moskau kontrollierte Kaukasus-Büro der Kommunistischen Partei das armenisch besiedelte Berg-Karabach 1921 zur autonomen Region. Jedoch wurde diese Region von der neu geschaffenen Sowjetrepublik Aserbaidschan verwaltet, was häufig zu Spannungen zwischen Karabach-Armeniern und Baku führte. Die aktuelle Phase des Konflikts begann 1987 zu Zeiten der Perestroika, als die Karabach-Armenier sich dem sowjetischen Armenien anschliessen wollten, was zu einer gewaltsamen Reaktion Aserbaidschans führte. Nach dem Zerfall der Sowjetunion brach der Krieg vollends aus. Auf beiden Seiten starben Zehntausende; Hunderttausende wurden vertrieben. Aus einem 1994 vereinbarten Waffenstillstand gingen die Karabach-Armenier siegreich hervor, da sie nun Gebiete weit jenseits der Grenzen der autonomen Sowjetregion Berg-Karabach kontrollierten.
Fast zeitgleich mit dem Kriegsausbruch von 1992 begann im Rahmen der OSCE Minsk Group unter Co-Vorsitz von Frankreich, Russland und den USA die Suche nach einer Lösung. Mitte der 2000er-Jahre einigten sich die Parteien auf Grundprinzipien der Konfliktbeilegung, darunter die Nichtanwendung von Gewalt, die Selbstbestimmung Karabachs durch ein zukünftiges Referendum und die territoriale Integrität Aserbaidschans. Diese umfasste die Rückgabe der Gebiete ausserhalb von Berg-Karabach, die die armenischen Streitkräfte im Krieg erobert hatten, an Aserbaidschan, die Einrichtung eines Landkorridors zwischen Armenien und Berg-Karabach, die Rückführung Vertriebener und die Stationierung einer internationalen Friedenstruppe.
Keiner dieser Vorschläge wurde je umgesetzt. Während mehr als zwanzig Jahren sorgte ein asymmetrisches militärisches Gleichgewicht für relativen Frieden. Aserbaidschan war zwar die insgesamt mächtiger, aber Armenien hatte dank seines höher gelegenen Geländes einen strategischen Vorteil. Dieses Gleichgewicht verschob sich jedoch zunehmend zugunsten Aserbaidschans. Ein Grund dafür war die Unterstützung Aserbaidschans durch die Türkei. Nach der Devise «eine Nation, zwei Länder» hatten die Türkei und Aserbaidschan im August 2010 ein umfassendes Militärabkommen unterzeichnet und seither regelmässig gemeinsame Manöver durchgeführt. Immer mehr aserbaidschanische Offiziere wurden in der Türkei ausgebildet – 2020 rund 85 Prozent. Ankara kooperierte mit Aserbaidschan auch in den Bereichen Nachrichtendienste und operative Planung und wurde zu einem wichtigen Waffenlieferanten. So lieferte Ankara Bayraktar-Drohnen, die den militärstrategischen Vorteil Armeniens zunehmend schmälerten.
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